Deutschland, erinnere dich daran, wer du bist
Die Ausreden nehmen zu. Verantwortung schrumpft. Und zu viele halten das für normal.
In meiner aktuellen Monatskolumne für den Kölner Stadt-Anzeiger frage ich, was aus den Werten geworden ist, die Deutschland einst stark gemacht haben: Einsatz, Verlässlichkeit und geteilte Verantwortung. Denn Fortschritt entsteht nicht durch Reden, sondern durch Handeln, Mut und Beitrag.
Erste Klasse, 1988. Meine Lehrerin teilt die Mathehefte aus. Sie legt meins auf den Tisch, lächelt kurz und geht weiter. Nichts Besonderes, und doch machte gerade das den Moment besonders. Sie sah kein Kind, dessen Eltern zwei Jahre zuvor aus dem Iran geflohen waren. Sie sah eine Schülerin. Meine Leistung zählte, nicht meine Herkunft. In diesem Augenblick wusste ich: Ich gehöre dazu. Nicht als Ausnahme, sondern als Teil der Klasse.
Am Ende der Grundschule war ich Klassenbeste. Nicht, weil mir jemand etwas erleichtert hätte, sondern weil man das Gleiche von mir erwartete wie von allen anderen. Das war Deutschland für mich: ein Land, das nicht fragte, woher du kommst, sondern was du kannst.
Meine Eltern verstanden das. „Hier kannst du alles erreichen“, sagten sie, „aber du musst es dir verdienen.“ Mein Vater studierte Elektrotechnik an der RWTH Aachen in einer Sprache, die er erst lernen musste. Gleichzeitig arbeitete er 20 bis 30 Stunden pro Woche als studentische Hilfskraft. Nachts saß er am Computer und programmierte. Ich erinnere mich bis heute an das Klappern der Tastatur. Er lernte nicht nur Deutsch, sondern brachte sich C++ selbst bei. Seine Professoren gaben ihm diese Jobs, weil er Ergebnisse lieferte.
Jahre später gründeten meine Eltern ein Unternehmen. Mehr als hundert Menschen starteten dort ihre Karriere, viele mit einem ähnlichen Hintergrund wie sie selbst. So funktionierte dieser Vertrag. Deutschland forderte viel, versprach aber auch viel. Wer beiträgt, gehört dazu.
Mit achtzehn hielt ich meinen deutschen Pass in den Händen. Ich schwor auf das Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Aber auch: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Rechte und Pflichten, beides zusammen. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Dieser Pass war kein Geschenk. Er war ein Vertrag.
Darauf war Deutschland einst stolz. Auf Fleiß, Verlässlichkeit und Präzision. Auf den Glauben, dass gute Arbeit zählt, egal wer sie leistet. Während Amerika vom Einzelnen träumte, der aus dem Nichts zum Millionär wird, träumte Deutschland vom Kollektiv. Von einem starken Mittelstand. Von Handwerk und Ingenieurskunst. Von einer Gesellschaft, in der alle, die hart arbeiten, gut leben können.
Das war der deutsche Traum. Nicht schnelles Geld, sondern verdienter Erfolg. Nicht Umverteilung, sondern gemeinsames Schaffen. Ludwig Erhard nannte es „Wohlstand für alle“, aber er meinte nie Wohlstand ohne Leistung.
Wer heute sehen will, wie dieser Geist aussieht, schaue auf unsere Nationalmannschaft im Basketball. Welt- und Europameister mit nur einem Bruchteil der NBA-Stars anderer Länder. Dennis Schröder, Franz Wagner, viele Namen, unterschiedliche Hintergründe, ein Team. Nicht die beste Einzelspielerin gewinnt. Das beste Kollektiv tut es.
So haben wir Deutschland nach dem Krieg wieder aufgebaut. Mit Pragmatismus statt Bürokratie. Mit Mut statt Ausreden. Heute scheinen wir das vergessen zu haben.
Wir reden über Anspruch, nicht über Verantwortung. Wir fragen, was wir verdienen, nicht, was wir beitragen können. Wir verwalten Probleme, statt sie zu lösen. Unsere Eltern kannten noch den Satz „Von nichts kommt nichts.“ Heute klingt er altmodisch. Währenddessen kopieren andere Länder genau die Tugenden, die wir aufgegeben haben: Disziplin, Einsatz und Gemeinsinn. China ist eines davon. Statt zu fragen, was wir lernen könnten, erklären wir, warum es hier nicht funktionieren würde. Zu kompliziert. Zu riskant. Zu unbequem.
Für alles haben wir eine Ausrede, aber keine Lösung.
Auch in der Politik reden wir lieber, als zu handeln. Wir moralisieren, belehren und fordern von der Welt, was wir selbst nicht einlösen. Doch Verantwortung beginnt nicht auf der Weltbühne. Sie beginnt im Spiegel. Das haben mir meine Eltern beigebracht, und meine Lehrerin ebenfalls. Bevor du andere kritisierst, frag dich: Welchen Anteil habe ich? Diese Haltung macht dich nicht klein. Sie macht dich stark.
Unternehmertum bedeutet nicht, ein Unternehmen zu besitzen. Es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Für dich selbst, für andere, für die Zukunft. Egal ob Gründerin, Angestellter, Lehrerin oder Politiker. Deutscher Wohlstand ist nie durch gute Absichten oder große Worte entstanden. Er entstand durch Taten. Durch Menschen, die nicht fragten, was ihnen zusteht, sondern was sie bauen können. Die nicht mit dem Finger zeigten, sondern die Ärmel hochkrempelten.
Diesen Geist brauchen wir wieder. Den Mut, Dinge besser zu machen, statt sie nur zu kritisieren. Die Klarheit zu verstehen, dass Freiheit und Verantwortung zusammengehören, ebenso wie Rechte und Pflichten. Die Bereitschaft, schwierige Entscheidungen zu treffen.
Deutschland muss sich nicht neu erfinden. Es muss sich nur daran erinnern, was es stark gemacht hat. Den Vertrag zwischen Beitrag und Zugehörigkeit. Die Idee, dass jede und jeder, der beiträgt, dazugehört.
Meine Lehrerin wusste das. Mein Vater hat es gelebt. Deutschland hat es für mich möglich gemacht. \nJetzt sind wir dran.
Deutschland, erinnere dich daran, wer du bist.