Vision vs. Strategie

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Mike Cohn
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In den Artikeln über den Schlüssel zum Erfolg von Produkten und die Alternative zu Roadmaps habe ich bereits darüber gesprochen, dass man jedem Team den für gute Entscheidungen notwendigen Kontext bieten muss, wenn man die Vorteile der Bevollmächtigung und Autonomie von Teams nutzen möchte. Darin habe ich erklärt, dass dieser Kontext sich normalerweise in der Produktvision und einer Reihe von ergebnisorientierten Zielen für jedes einzelne Team widerspiegelt (OKRs sind dafür bspw. gut geeignet).

Ich habe auch schon über ergebnisorientierte Ziele geschrieben. In diesem Artikel möchte ich näher auf die Produktvision eingehen und besonders darauf, wie wichtig die Produktstrategie für die Erfüllung der Produktvision ist.

Die Produktvision

Die Produktvision beschreibt die Zukunft, die wir erschaffen möchten – meistens liegt dies irgendwo innerhalb der nächsten 2 bis 5 Jahre. Bei Hardware o.ä. liegt diese Zeitspanne bei etwa 5-10 Jahren. Sie ist in keinster Weise eine Spezifikation, sondern dazu da, etwas zu vermitteln. Das kann in Form eines Storyboards geschehen, oder in Form einer Beschreibung wie in einem Whitepaper, oder aber in Form eines Prototypen (welcher dann als „Visiontype” bezeichnet wird). Der Hauptzweck ist, die Vision zu vermitteln sowie die Teams (und Partner und Investoren) dazu zu inspirieren, diese Vision verwirklichen zu wollen.

Eine gute Produktvision ist eines unserer effektivsten Recruiting Tools und motiviert die Teammitglieder, tagtäglich zur Arbeit zu kommen. Gute Leute in der Technologiebranche werden von einer inspirierenden Vision angezogen; sie wollen an etwas Bedeutungsvollem beteiligt sein.

Man kann natürlich eine Validierung der Vision vornehmen, aber es ist nicht das gleiche wie die Validierung konkreter Lösungen, wie man sie aus der Product Discovery kennt. In Wahrheit ist es ein Vertrauensvorschuss, wenn man an eine Vision glaubt. Höchstwahrscheinlich wissen Sie gar nicht wie bzw. ob Sie überhaupt in der Lage sein werden, die Vision zu realisieren; aber denken Sie daran, dass Sie mehrere Jahre Zeit haben, Lösungen dafür zu finden. Zu diesem Zeitpunkt sollten Sie daran glauben, dass es ein lohnenswertes Ziel ist. Laut Jeff Bezos sollte man „stur bei der Vision und flexibel bei den Details” sein.

Die Produktstrategie

Eine der essenziellsten Lektionen in der Produktentwicklung ist, dass der Versuch, alle und jeden zufriedenzustellen, mit großer Sicherheit niemanden zufriedenstellen wird. Wir sollten uns daher auf keinen Fall auf eine einzige extrem umfangreiche und langjährige Arbeit einlassen, um ein Release zu erschaffen, mit dem wir die Produktvision umsetzen wollen. Das wäre das genaue Gegenteil des Konzepts eines Minimum Viable Products.

Die Produktstrategie ist unsere Abfolge von Produkten, die wir auf dem Weg zur Realisierung der Vision ausliefern wollen. Der Begriff „Produkte” ist hier etwas weiter gefasst – es kann sich auf verschiedene Versionen des gleichen Produkts beziehen, auf verschiedene oder ähnliche Produkte oder aber eine Reihe wichtiger Meilensteine. Normalerweise fordere ich Teams immer auf, die Produktstrategie auf eine Reihe von sogenannten Product-Market Fits auszurichten.

Dabei gibt es die verschiedensten Möglichkeiten (sozusagen die Strategie für die Produktstrategie):

  • Bei vielen Unternehmen im B2B/SaaS-Bereich konzentriert sich jeder einzelne Product-Market Fit auf einen anderen vertikalen Markt (z. B. Finanzdienstleistungen, Produktion, Telekommunikation usw.).
  • Bei Unternehmen deren Zielgruppe die Endverbraucher sind, passen wir häufig die einzelnen Product-Market Fits an die verschiedenen Verbraucher- oder Nutzerpersonas an.

Manchmal hängt die Produktstrategie auch von der Geographie ab und wir arbeiten einzelne Regionen nacheinander ab.

Und manchmal beruht die Produktstrategie mehr darauf, eine Reihe der wichtigsten zu liefernden Meilensteine in einer bestimmten logischen und notwendigen Reihenfolge zu erreichen (z. B.: „Zuerst den Entwicklern der E-Commerce Applikationen die wichtigste Rating- und Reviewfunktionalität liefern, dann die daraus entstehenden Daten für die Erstellung einer Datenbank über das Konsumverhalten nutzen und danach diese Daten für verbesserte Produktempfehlungen verwenden”).

Es gibt keinen Ansatz für die Produktstrategie, die für jeden optimal ist, und man kann nie wissen, wie es mit anderen Product-Market Fits gelaufen wäre, aber ich sage den Teams immer, dass der wichtigste Vorteil davon ist, dass sie sich entschieden haben, die Arbeit am Produkt immer nur auf einen einzigen Markt auf einmal zu konzentrieren. So wissen alle Teams, dass wir uns im Moment auf den Herstellermarkt konzentrieren, dass wir uns genau auf eine bestimmte Kundengruppe konzentrieren und dass es unser Ziel ist, das kleinstmögliche auslieferbare Produkt zu finden, mit dem unsere Kunden erfolgreich sein werden. Ideen, die für andere Märkte gedacht sind, behält man für die Zukunft im Hinterkopf.

Ihre Produktstrategie kann nicht nur enorm Ihre Chancen erhöhen, etwas zu liefern, das Ihr Unternehmen voran bringt, sie stellt Ihnen jetzt auch ein Instrument zur Verfügung, mit dem Sie Ihre Arbeit am Produkt mit der Sales/Vertriebs- und Marketingorganisation koordinieren können. Wir wollen, dass der Vertrieb in den Märkten unser Produkt verkauft, für die wir einen Product-Market Fit gefunden haben. Sobald wir einen Product-Market Fit für einen neuen Markt gefunden haben (normalerweise mit der Hilfe von Referenzkunden), kann das Vertriebsteam weitere Kunden in diesem Markt suchen.

Warum sind Produktvision und Produktstrategie so wichtig?

Also zurück zu dem Konzept, den Produktteams den nötigen Kontext zu bieten.

Damit ein Produktteam wirklich eigenständig arbeiten kann, müssen die Teammitglieder ein gutes Verständnis des gesamten Kontextes haben. Das beginnt mit einer eindeutigen und überzeugenden Produktvision und dem Weg zur Realisierung dieser Vision – der Produktstrategie.

Je mehr Produktteams Sie haben, umso wichtiger ist es, eine vereinende Vision und Strategie zu haben, damit jedes einzelne Team die richtigen Entscheidungen treffen kann.

Als ich kürzlich bei einem Startup den Wert und die Bedeutung von Vision und Strategie beschrieb, fiel mir auf, dass das mit dem Unterschied zwischen Leadership und Management vergleichbar ist. Leadership inspiriert und gibt eine Richtung vor und das Management hilft uns, das Ziel zu erreichen.

Anmerkungen zur Produktvision vs Produktstrategie

Wie Sie sich vielleicht denken können, gibt es viele verschiedene Facetten der Produktstrategie. Einige der wichtigsten Punkte möchte ich hier kurz erläutern:

  • Wenn es um die Priorisierung von Märkten geht, habe ich bisher nur davon gesprochen, die Märkte zu priorisieren und sich dann auf einen nach dem anderen zu konzentrieren. Ich habe aber noch nicht gesagt, wie man sie priorisieren sollte. Es gibt keine allgemeingültige Lösung, es gibt aber zwei wichtige Aspekte, die man beachten sollte, um eine Entscheidung zu treffen. Der erste ist die Marktgröße (meistens TAM genannt – Total Addressable Market). Wenn wir davon ausgehen, dass alle anderen Faktoren genau gleich sind, ziehen wir die großen Märkte den kleineren Märkten vor. Aber natürlich sind Märkte nicht gleich. Wenn nun der größte TAM-Markt zwei Jahre an Arbeit für das Produkt erfordern würde, einige andere etwas kleinere aber dennoch bedeutende Märkte allerdings eine wesentlich kürzere Markteinführungszeit (Time to Market) aufweisen würden, würden sicherlich alle vom CEO bis zur Vertriebsabteilung die kleineren Märkte bevorzugen. Dies sind normalerweise die zwei Hauptfaktoren, obwohl andere Faktoren natürlich auch eine wichtige Rolle spielen können. Grundsätzlich würde ich in einer solchen Situation vorschlagen, dass sich der Leiter der Produktentwicklung und der Leiter der Marketingabteilung zusammensetzen und mit einem ausgewogenen Verhältnis dieser beiden Faktoren die Produktstrategie ausarbeiten.
  • Manchmal wird die Produktstrategie als „Vision Roadmap” bezeichnet. Im Grunde genommen habe ich damit kein großes Problem, allerdings kann der Begriff „Roadmap” für Verwirrung im Unternehmen sorgen. Beachten Sie auch, dass diese Vision Roadmap nichts mit einerProduct Roadmap zu tun hat (eine priorisierte Liste mit Features und Projekten, die einen bestimmten Product-Market Fit in der Produktstrategie erreichen sollen).
  • Wenn wir eine Produktvision und eine Produktstrategie erschaffen, erstellen wir normalerweise auch eine Reihe von Produktprinzipien (aka Produktmanifest). Diese drei Komponenten werden oft zusammengefügt und dann als „Produktvision” bezeichnet.
  • Nur weil wir den Product-Market Fit für einen bestimmten Markt erreicht haben, heißt das nicht, dass wir mit der ganzen Arbeit für den Markt durch sind. Es bedeutet lediglich, dass wir ein minimales Produkt haben, das wir verkaufen können und das nachweislich die Bedürfnisse der ersten Referenzkunden befriedigt. Wir arbeiten weiter daran, das Produkt für andere Kunden im gleichen Markt zu verbessern. Typischerweise erledigen wir diese Arbeiten zum gleichen Zeitpunkt, zu dem wir uns auch dem nächsten Markt in unserer Strategie widmen.

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