Die Produktstrategie in einer agilen Welt

Author
Foto von Sohrab Salimi
Sohrab Salimi

Lesezeit
4 Minuten

Kürzlich habe ich mich mit einem Team sehr frustrierter Scrum-Entwickler unterhalten. Sie waren frustriert, weil sie das ganze letzte Jahr nur ein Feature nach dem anderen gejagt hatten und sie glaubten, dass der Produktmanager überhaupt keine wirkliche Ahnung davon hatte, was genau ihr Ziel war und was sie erreichen wollten. Als ich mich dann mit dem Produktmanager (“Product Owner” in Scrum-Terminologie) unterhielt, erklärte er mir, dass er dachte, die Idee hinter Methoden wie Scrum sei es, flexibel und “agil” zu bleiben und dass er sich nicht um längerfristige Ziele kümmern müsse.

Das war nicht das erste Mal, dass ich diese Verwechselung mitbekommen habe und ich befürchte, dass das Erstellen einer effektiven Produktstrategie ungewollt den “Agilen Methoden” zum Opfer gefallen ist.

Was ist eine Produktstrategie?

Daher dachte ich, es sei hilfreich, zu klären, was eine Produktstrategie ist, warum sie so wichtig ist und wie man sie mit einer agilen Philosophie vereinbaren kann.

1) Zuerst einmal soll eine Produktstrategie die Vision beschreiben, die man verwirklichen möchte. Die Zeitspanne dafür liegt normalerweise zwischen zwei und fünf Jahren. Dabei handelt es sich um visionäre Arbeit, die überzeugend sein soll, und definitiv nicht um eine Spezifikation.

Die Produktstrategie wird manchmal in Form eines Projekt-Wikis dargestellt, manchmal in einem White Paper, als PowerPoint Präsentation oder als Video, in dem man die Vision vorstellt. Welches Medium man wählt, hängt zum Teil davon ab, mit wie vielen Personen man die Produktstrategie teilen möchte und ob man sie ihnen persönlich erklären kann oder ob sie selbsterklärend sein muss. In jedem Fall sollte sie eindeutig, stringent und inspirierend sein. Was wird sich verbessern, sobald dieses Produkt oder dieser Service sein volles Potenzial erreicht hat? Dabei geht es nicht um bestimmte Features oder Funktionalität, die gebaut oder nicht gebaut werden, sondern um die Vorteile davon, dieses Produkt zu haben. Welche Probleme werden mit diesem Produkt gelöst? Warum werden die Nutzer das Produkt lieben? Warum wird die Welt eine bessere sein, sobald diese Vision Realität geworden ist?

2) Zweitens bildet die Produktstrategie eine Brücke zwischen der Unternehmensstrategie und der Produkt-Roadmap. Die Produktstrategie muss die Unternehmensstrategie unterstützen und die Roadmap beschreibt den aktuellen Plan, wie man vom jetzigen Standpunkt zur Realisierung der Vision gelangen möchte, die in der Produktstrategie beschrieben wurde.

Passen Sie auf, dass Sie nicht die Unternehmensstrategie mit der Produktstrategie verwechseln. Die Unternehmensstrategie könnte etwa sein “unser E-Commerce Angebot ausbauen, um auch Käufer auf anderen Kontinenten zu erreichen”. Die Produktstrategie beschreibt dann das E-Commerce Angebot mit allem, was benötigt wird, um die Unternehmensstrategie zu unterstützen, wie z. B.: Anpassung der Sprache, Währungsumrechnung, Zahlungsmethoden, Versandarten und Vertragserfüllung, Zollkontrollen etc.

3) Drittens ist das Finden einer guten Produktstrategie eine der wichtigsten Aufgaben eines Produktmanagers (bzw. des “Director of Product Management”). Das ist nicht einfach aber ansonsten sind die Chancen ziemlich gering, am Ende etwas wirklich Wertvolles zu bekommen. Es ist wie bei dem Sprichwort: “Wenn man nicht weiß, wo man hin will, kann man jeden Weg nehmen.

Um eine Produktstrategie finden zu können, müssen wir erst ein tiefgehendes Verständnis für die Zielkunden, den Markt und die zugrundeliegenden Technologien bekommen. Dabei wird es viel Brainstorming und viele Diskussionen geben. Sie sollten die leitenden Entwickler und Designer sowie die wichtigsten Stakeholder aktiv in diese Gespräche einbeziehen. Die Produktstrategie sollten Sie gemeinsam mit dem Management besprechen und überprüfen. Das Führungsteam sollte sich intensiv um diese Produktstrategie kümmern.

Viele Produktmanager sind fälschlicherweise der Ansicht, dass die Produktstrategie von den oberen Führungsebenen vorgegeben werden muss. In manchen Fällen ist das auch so, z. B. wenn der Gründer eines Start-Ups als Produktvisionär fungiert. Wenn das nicht der Fall ist, sollten Sie die Produktstrategie vorschlagen und dem Management vorlegen, damit sie sie überprüfen können. Das ist eine großartige Aufstiegschance für Sie.

Features zu definieren und zu bauen, ohne eine gut durchdachte Produktstrategie zu haben, ist mit Sicherheit eine Verschwendung von Zeit und Geld.

4) Viertens ist es wichtig, zu verstehen, dass eine Produktstrategie Sie nicht an bestimmte Features oder einen bestimmten Ablauf bindet. Die Features und die Abfolge sind in der Product-Roadmap (“Backlog” in Scrum) dargestellt. Sie können und sollten die Roadmap regelmäßig daran anpassen, was Sie von den Nutzern, dem Markt, Ihren Analysen und den sich ständig verändernden Technologien gelernt haben.

Fazit: agile Produktstrategie

Letztenendes bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass gewisse produktbezogene Grundsätze, die mit der Produktstrategie einhergehen, Ihnen und Ihrem Team helfen können, viele Entscheidungen zu treffen und Kompromisse einzugehen, die beim Definieren der Features und User Experience aufkommen. Diese Grundsätze sind mit der Produktstrategie verbunden und unterstützen diese.

Hoffentlich können Sie erkennen, dass es nicht im Geringsten im Widerspruch zu agilen Methoden steht, wenn man eine Vision davon hat, was man erreichen möchte. Tatsächlich behaupte ich sogar, dass agile Methoden, wenn sie richtig angewendet werden, Ihnen dazu verhelfen können, Ihre Produktstrategie erheblich schneller zu realisieren als mit konventionellen Methoden.

Wenn Sie keine Produktstrategie für Ihr Produkt haben, rate ich Ihnen, tief durchzuatmen, einen Schritt zurückzutreten und sich selbst zu fragen, was Sie erreichen wollen. Wo soll das Produkt beispielsweise in drei Jahren sein? Wie werden Sie das erkennen oder messen? Dann teilen Sie diese Vision mit Ihrem Management und Ihrem Team – vor allem mit den Entwicklern. Denn auch sie wollen wissen, wo es mit dem Produkt hingehen soll. Das erhält die Motivation und sie werden sehen, dass ihr Produktmanager nicht ohne Konzept an die ganze Sache heran geht. Außerdem ist die Strategie wichtig, weil sie den Entwicklern hilft, zukünftige Möglichkeiten und Anforderungen vorhersehen zu können, die ihre Entscheidungen bezüglich Technologie und Architektur beeinflussen können.

Dieser Text stammt aus dem Blog von Marty Cagan und wurde von uns ins Deutsche übersetzt.