Das agile Ministerium: Ein Interview mit Sebnem Andresen

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Sohrab Salimi

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Heute ist es Zeit für das nächste Interview in unserem Wissensbereich. Genauer gesagt, wird dieses der Auftakt einer Alumni-Reihe ehemaliger Trainingsteilnehmer sein, die euch berichten, wie ihr Arbeitsalltag aussieht, warum sie damals ein Training gebucht oder die Consultingleistungen in Anspruch genommen haben und wie sie seitdem ihr agiles Wissen in der Praxis anwenden.

Nachdem unser erstes Interview bereits so viel positives Feedback generieren konnte, sind wir gespannt, was ihr zu unseren “Best Practice” Alumni sagen werdet. 

Ohne lange Umschweife und bevor ich zu viel verrate, möchte ich direkt in das Interview starten. Unser heutiger Gast ist Sebnem Andresen.

Scrum Academy

Liebe Sebnem, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst und uns ein Interview gibst. Bevor wir die Leser weiter auf die Folter spannen, stell dich doch vor und sag uns, wer du bist und was du machst.

Sebnem Andresen

Gerne. Ich bin Sebnem Andresen, 45, verheiratet, Mutter einer Tochter und arbeite seit 16 Jahren in der IT-Branche abwechselnd als Projekt- und als Produkt Managerin. Die letzten 6 Monate war ich über das Work4Germany-Programm als Fellowin im Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur beschäftigt und habe viele Eindrücke gewonnen, wie der Staat arbeitet bzw. wie die Arbeitsstrukturen dort aufgebaut sind. Auch viele interessante Projekte des Ministeriums und sehr viele Personen aus unterschiedlichen Referaten habe ich kennen lernen dürfen.
Work4Germany ist ein Programm unter der Schirmherrschaft von Helge Braun (Bundeskanzleramt) und ist seit einigen Monaten eine Bundesagentur. Ziel von Work4Germany ist es Menschen aus der Privatwirtschaft, die methodisch stark sind, in die Bundesministerien zu bringen, um dort agiles Arbeiten einzuführen. Es war eine sehr spannende Zeit mit vielen Eindrücken und ich bin dankbar, dass ich daran teilnehmen konnte.

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Das hört sich wirklich spannend an und es freut mich, dass das Programm so vielversprechend gestartet ist. Wie und wann hast du den Weg in unsere Trainings gefunden?

Sebnem Andresen

Ich habe in den letzten Jahren viele Erfahrungen im agilen Umfeld gemacht, d.h. mit Dailies, Reviews und Retros im Projektmanagement. Ich wollte meine Kenntnisse vertiefen und die Philosophie von Scrum von Grund auf lernen und ein Zertifikat bekommen. Ich habe über die TAM Academy den Weg zu euch gefunden und anschließend mit Sohrab telefoniert. Ich war sofort begeistert. Ich habe bei euch die Kurse Certified Scrum Master (CSM) und Certified Agile Leadership (CAL-1) gemacht. Beide Kurse fanden online statt und haben neben viel Spaß meinen Horizont und mein Wissen enorm erweitert.

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Was war dir besonders wichtig bei der Auswahl des Trainingsanbieter und/oder dem Training? 

Sebnem Andresen

Mir war sehr wichtig, dass am Training auch Menschen aus anderen Branchen teilnehmen, die nicht aus der IT kommen. Die Diversität war in den Trainings gegeben und es hat sehr viel Freude gemacht. Auch war mir sehr wichtig, dass das Training gute Übungen beinhaltet, die sofort in die Praxis umgesetzt werden können. Nach dem 3-Tage-Training haben wir (alle Teilnehmer untereinander) uns vernetzt und ich weiß, wenn ich eine Frage hätte – in welche Richtung auch immer – kann ich mit deren Unterstützung rechnen. Es war tolle Teamarbeit!

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Was ist die wichtigste Erkenntnis bzw. der größte Ah-ha Effekt, den du im Training hattest?

Sebnem Andresen

Ich habe meine Kenntnisse durch den Scrum Master vertieft und viel Sicherheit gewonnen. Natürlich weiß man schon einiges, wenn man nach Scrum oder einer anderen agilen Methode gearbeitet hat. Aber was ich toll fand, waren die passenden Beispiele aus anderen Branchen und die Erfahrungen aus den Projekten und Beratungen von Sohrab, die er mit einfließen ließ. Auch die Best- und Worst Practices, wenn es um die Einführung von Scrum in Unternehmen geht, waren extrem hilfreich. Sohrab stellte immer wieder das Wichtigste in den Vordergrund und sagte, was notwendig ist, um agil arbeiten zu können und auch wie sich die Denkweise ändern muss, damit die Arbeitsweise erfolgreich genutzt werden kann.

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Du warst nun ein halbes Jahr bei Work4Germany, dem Projekt der Bundesregierung als Fellowin im BMVI. Vorher warst du in einem großen Telekommunikationsunternehmen bzw. einer Tochter. Beides vermutlich nicht unbedingt die “agilsten” der Agilen. Wo siehst du aber dennoch Unterschiede zwischen einem großen Konzern aus der freien Wirtschaft und einer Bundesbehörde? 

Sebnem Andresen

Ich war vor dem BMVI bei Motionlogic, einer Tochter der Deutschen Telekom, und habe dort im Big Data-Bereich mit den Kolleg:innen agil gearbeitet. Dort erstellten wir fundierte Analysen von Verkehrs- und Bewegungsströmen, die auf anonymen Signalisierungsdaten aus dem Mobilfunknetz basierten – und formten diese zu Produkten.
Wir nutzen die Kanban-Methode und modernen Tools, wie Confluence, Jira und Slack. Es gab auch Dailies und Reviews.

Auch bei meinem vorherigen Arbeitgeber Sensorberg, welche im IoT-Sektor tätig ist, wurde agil gearbeitet. Neben den bereits oben genannten modernen Tools für das Projektmanagement gab es z. B. ein Ideen-Board, die besten Ideen wurden ausprobiert. Generell herrschte bei Sensorberg eine sehr offene Atmosphäre, die Firma wurde von „Agilisten“ geführt, Teamarbeit und -spirit waren sehr wichtig, jede:r Mitarbeiter:in durfte viel ausprobieren und Verantwortung übernehmen, es gab sehr viel Freiheiten. Wir mussten nie anwesend sein, konnten von überall arbeiten – und haben großartige Dinge vollbracht und in kürzester Zeit eine Technologie und eine Hardware entwickelt, die über Bluetooth mit Hilfe einer App Türen öffnete, was für Betreiber von z. B. Coworking-Spaces sehr effektiv war, da keine Schlüssel mehr verteilt werden mussten. 

Aus diesem Grund sind meine beiden vorherigen Arbeitgeber nicht vergleichbar mit der Behörde. In der Bundesbehörde wird hierarchisch gearbeitet. Es gab in einigen Referaten jedoch bereits agile Ansätze und überall großes Interesse. Aber das Ziel des Work4Germany-Projektes war es ja gerade, einen Austausch zu gewährleisten und agile Methoden in den verschiedenen Referaten auszuprobieren und einzuführen. Es hat auch gut funktioniert.

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Was hat dich an der Behörde am meisten positiv überrascht?

Sebnem Andresen

Die dort arbeitenden Menschen und die Aufgeschlossenheit neuen Arbeitsmethoden gegenüber. Ich habe neben einem Tool für das kollaborative Arbeiten u a. die Kanban-Methode in Verbindung mit Dailies in mehrere Referate inklusive eines Kanban-Tools eingeführt. Die Kolleg:innen haben nach einer kurzen Schulung und Training sofort angefangen damit zu arbeiten. Ein Kollege, der 2 Jahre vor der Pensionierung steht, war sehr offen und begeistert! Solche Erlebnisse haben mich sehr motiviert.

Scrum Academy

Welche Elemente aus den Trainings haben dir bei der Arbeit in der Behörde am meisten geholfen? Gibt es etwas, was du nach dem Training ganz anders angegangen bist als vorher? 

Sebnem Andresen

Die Kolleg:innen haben z. B.  in einem Workshops Working Agreements gebrainstormt. Ich denke, es hat dem Team für ein besserer Verständnis untereinander sehr geholfen. Ich habe auch Scrum Elemente wie Dailies und Retrospektiven eingeführt. Ich denke, dass solche Methoden bei der Arbeitsorganisation nur Vorteile mit sich bringen.

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Was meinst du, wie agil kann eine Behörde sein, wenn sie es will? Und wie lange würde es wohl dauern?

Sebnem Andresen

Ich denke, agiles Arbeiten passt sehr gut in die Behördenwelt. Überall, wo unterschiedliche Menschen an komplexen Themen arbeiten, Ad hoc-Aufgaben anstehen und schnell reagiert werden muss, kann agiles Arbeiten erfolgreich eingesetzt werden. 

Was wäre denn, wenn es in der neuen Legislaturperiode ein eigenes Ministerium gäbe, das die Notwendigkeit der Reformation der Verwaltung erkannt hat und die „Agilisierung“ derer in den Vordergrund stellt? Ein Ministerium, in dem agiles Arbeiten erlebbar wäre, in dem innovative Lösungen für die Verwaltung erarbeitet werden? 
Ein Ministerium, das in allen Aspekten „digital first“ denkt und handelt und eine infrastrukturelle Ausrüstung hat, die selbst Google aufhorchen lassen würde?

Ich denke sogar, die Behörden sollten unbedingt agil arbeiten. Meine Fellow-Kollegin Mirine Choi und ich haben bereits bestehende Gedanken und unsere eigenen Erfahrungen weiter gedacht und ein Konzeptpapier für das Ministerium der Zukunft, für ein „Neues Ministerium“ geschrieben, in dem wir die Struktur und Organisation komplett agil aufgesetzt haben. 
Für alle, die es interessiert: https://work.4germany.org/project/das-neue-ministerium-fellows-2020/

Wie lange würde es dauern? Es könnte bereits in der nächsten Legislaturperiode als Pilotprojekt umgesetzt werden. 

Scrum Academy

Das klingt sehr spannend. Ich hoffe, dass es großen Anklang findet! Wo liegen die größten “Stolpersteine” bei Behörden im Gegensatz zu ähnlich großen Unternehmen?

Sebnem Andresen

Die Arbeit in einer Behörde ist hierarchisch aufgebaut. Der größten Stolperstein ist bei solch einer Struktur, dass das agile Arbeiten in selbstorganisierten Teams dadurch behindert bzw. gar nicht erst möglich gemacht wird. Da muss klein angefangen werden und agiles Arbeiten schrittweise eingeführt werden. Die Vorteile müssen aufgezeigt werden. Es muss überzeugt werden. Das dauert. Es sei denn, es wird komplett ein “Agiles Ministerium” (PDF) aufgesetzt, so wie im Konzept oben beschrieben.

In großen Unternehmen wird zum größten Teil auch eher nach dem Top-Down-Führungsstil gearbeitet. Dort kommt es aber auf die Führung an, wenn die Führungsriege die Vorteile des agilen Arbeitens erkennt, kann agiles Arbeiten in kurzer Zeit umgesetzt werden.

Scrum Academy

Du gehst nun nach dem Ende deiner Fellow-Zeit wieder in die freie Wirtschaft. Verrätst du uns schon, in welche Richtung es geht und was deine Aufgaben sein werden?

Sebnem Andresen

Ich freue mich sehr bei der Elia Group anzufangen. Mit ihren beiden Übertragungsnetzbetreibern 50Hertz in Deutschland und in Elia Belgien gehört die Gruppe zu den Top 5 in Europa. 50Hertz ist zudem führend bei der sicheren Integration Erneuerbarer Energien.

Scrum Academy

Auf jeden Fall ein Thema, welches in Zukunft noch weiter an Bedeutung gewinnen wird. Glaubst du, dass du in der Wirtschaft andere Dinge aus dem Training nutzen wirst als bei der Bundesbehörde? Wo liegen die größten Unterschiede bei der Arbeit innerhalb einer Behörde und einem Wirtschaftsunternehmen?

Sebnem Andresen

Ich denke, dass agile Methoden und Tools aus meiner bisherigen Berufserfahrung und aus dem Training sowohl in einer Behörde als auch in einem Wirtschaftsunternehmen gut einsetzbar sind. 

Scrum Academy

Wie agil kann eine Behörde überhaupt sein? Glaubst du, dass es hier Einschränkungen gibt? Und wenn ja warum?

Sebnem Andresen

Als organisationstheoretisches Leitbild für die öffentliche Verwaltung fungiert die Bürokratietheorie nach Max Weber. Eine Behörde ist demnach hierarchisch strukturiert. Die Einschränkung besteht aufgrund der Tatsache, dass in agilen Teams selbstorganisiert gearbeitet und entschieden wird – das ist in einer hierarchischen Struktur nicht möglich.

Meine Erfahrung ist jedoch, dass es nicht so bleiben muss und dass es sich sehr gut agil in einer Behörde jetzt schon arbeiten lässt: mit Dailies, Retros und agilen PM-Methoden wie Kanban und Tools, mit denen kollaborativ gearbeitet werden kann. Einschränkungen gibt es, weil die Behörden z. B. nicht mit Tools, die sich auf der Cloud befinden, arbeiten wollen und können. Das verstehe ich. Es gibt jedoch auch die Möglichkeit, sich z. B. ein Kanban-Board oder Tool lokal auf den Servern zu installieren. Einschränkungen gibt es auch durch die Hierarchie. Wir brauchen daher Politiker und Behörden, die umdenken bzw. neudenken wollen. Ich denke, das Work4Germany-Programm ein sehr guter Ansatz ist, um zum Umdenken anzuregen. 

Was sehr wichtig ist, damit Behörden künftig agiler arbeiten können ist, dass sich die Führungskräfte öffnen und ein agiles Mindset entwickeln. Führungskräfte sind der größte Hebel zur Herstellung einer kollektiven Veränderungskultur. Auch hier unterscheiden sich Ministerien nicht von anderen Organisationen. Führungskräfte haben Vorbildfunktion für andere Mitarbeiter:innen und nehmen Einfluss darauf, welche Verhaltensweisen in einer Organisation ermutigt oder sanktioniert werden. Die Führungskräfte sollten durch Coaching und Training zu “New Leader:innen” weitergebildet werden. 

Die Aufgabe de:r „New Leader:in“ besteht darin, das Team weiterzuentwickeln, zu unterstützen, um das Beste aus jedem Einzelnen heraus zu holen (Output). Indem der/die New Leader:in dafür sorgt, dass (passend zu den agilen Werten) Mut, Offenheit, Respekt, Fokussierung und Commitment (Selbstverpflichtung) innerhalb des Teams gelebt werden. Dafür muss er bzw. sie eine Umgebung schaffen, in der Fortschritt, Kreativität und Verbesserung überhaupt erst möglich werden. Der Fokus als New Leader:in liegt immer auf den Bedürfnissen des Teams.

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Glaubst du, dass sich durch die Corona-Pandemie in der Wirtschaft etwas in Bezug auf agile Arbeit und Digitalisierung geändert hat?

Sebnem Andresen

Ich denke, dass sich durch die Corona-Pandemie in der Arbeitswelt generell ziemlich viel in Bezug auf Digitalisierung geändert hat bzw. ändern muss. Da in der Regel vom Homeoffice aus gearbeitet wird, ist es besonders wichtig, agile Methoden wie z. B. ein Daily Standups für den morgendlichen Austausch oder ein Kanban-Board für die Visualisierung des Status der verschiedenen Aufgaben zu haben, damit jeder im Team informiert und auf dem gleichen Stand der Dinge ist. Dadurch entfallen viele Telefonate und Abstimmungsrunden.

Scrum Academy

Das stimmt. Ich mag hier, dass es Themen wie “Bring- und Holschuld” forciert und sich jeder selbstverantwortlich auf dem neuesten Stand halten kann.
Wir stellen vermehrt Anfragen fest, wo sich mit dem Thema Agilität bislang wenig oder gar nicht beschäftigt wurde, die Unternehmen nun aber merken, dass sie hier etwas tun müssen und sich daher vermehrt über die Trainings informieren. Was würdest du diesen Leuten sagen? Wie hilft ihnen bzw. den Angestellten ein Training bei uns?

Sebnem Andresen

Ich würde sagen: „Die Zeit ist reif, starre Strukturen aufzubrechen! Macht das Training, es wird euren Horizont erweitern.“ 

Scrum Academy

Was ist für dich ein “agiles Mindset”?

Sebnem Andresen

Ein agiles Mindset ist für mich eine Denkweise und Haltung, welche Teamgeist fördert, bei der Kundennutzen im Vordergrund steht, bei der keine Perfektion gefordert ist, sondern das Team mit den Aufgaben wächst und es eine Fehlerkultur gibt, die als Lernchance begriffen wird, um sich, das Team und das Produkt weiter zu entwickeln. 

Darüber hinaus gehört für mich zum agilen Mindset dazu, dass Lernen genauso viel Freude macht wie Können, ich meine damit die Bereitschaft, ständig Neues zu lernen und seinen Horizont zu erweitern. Personen mit agilem Mindset haben eine substanzielle Vision und Mission. Zum Beispiel ist das gemeinsame Lernen mit dem Kunden/Stakeholdern Teil der Herangehensweise.

Scrum Academy

Das hast du schön gesagt. Liebe Sebnem, wir wünschen dir alles gute zum Start in ein neues Arbeitskapitel und danke für das angenehme Gespräch.

Sebnem Andresen

Vielen Dank für die Einladung. Es hat mich sehr gefreut!